Sven Heuchert

minor regional novelist

Schwerelosigkeit

Das Schwimmbad ist sonst immer leer, ich gehe freitags morgens, um diese Zeit ist es meistens noch leer, und das mag ich, wenn nicht so viele Menschen im Wasser sind, dann kann ich in Ruhe meine Bahnen schwimmen. Ich schwimme gerne, denn im Wasser fühle ich mich leicht, ich mag es, ganz zu Anfang, wenn ich gerade erst ins Wasser gestiegen bin, dann mag ich es die Arme und Beine auszustrecken und durch das Becken zu gleiten, zu schweben, am besten ist es mit geschlossenen Augen, so muss Schwerelosigkeit sein, denke ich immer, genauso, so fühlt sich das an. Das geht nur, wenn es noch nicht so voll ist, deswegen gehe ich früh, und es ist auch nicht so laut, mir kommt es immer so vor, als ob das im Schwimmbad immer lauter wäre, als es eigentlich ist, vielleicht kommt mir das auch wirklich nur so vor, und ich wüsste auch nicht, woran das liegen könnte, aber wenn die Kinder schreien, dann platzt mir fast der Kopf. Nein, morgens ist es am Schönsten. Es ist schon ein altes Schwimmbad, nichts Besonderes, und es ist auch ewig nichts mehr dran gemacht worden, nichts modernisiert oder renoviert, die Umkleidekabinen sind ziemlich heruntergekommen und es riecht auch immer ein wenig nach Schimmel, aber es ist eben das einzige Schwimmbad in der Nähe. Ich komme gut hin, es sind nur drei Stationen mit der 510, und manchmal gehe ich auch zu Fuß, wenn das Wetter nicht zu schlecht ist.

Heute sind zwei Jungs da, sie sind vielleicht dreizehn, vierzehn, und das stört mich, die Jungs stören mich. Sie sitzen da am Beckenrand und reden miteinander, ich kann nicht hören, was sie reden, dafür sind sie zu weit weg, und sie sind auch nicht laut, aber trotzdem stören sie mich. Freitags morgens habe ich das Schwimmbad ansonsten für mich, ich bin meistens die Erste hier. Ich schwimme zwanzig Bahnen, und ich schwimme langsam, die nächsten Gäste kommen normalerweise erst, wenn ich bei den letzten Bahnen bin, die letzten drei oder vier Bahnen schwimme ich dann nicht mehr alleine, aber das macht mir nichts aus, denn ich weiß ja, ich bin bald durch und danach ist es mir egal, ich hatte meine Ruhe bis dahin, freitags morgens ist es meistens leer. Die beiden Jungs sehen nicht wie Schwimmer aus, sie tragen keine Klamotten des Vereins, der hier trainiert, manchmal sehe ich einen der Trainer, und ich frage mich auch, was sie hier tun, so früh, ob sie eigentlich nicht in der Schule sein müssten? Beide sind blond, blond und schmächtig, und ich versuche, sie gar nicht zu beachten, ich versuche sie zu ignorieren, so gut es geht, es sind eben Jungs, und vielleicht haben sie frei oder sie schwänzen den Unterricht, das geht mich ja nichts an. Sie sitzen immer noch da am Beckenrand, die Beine im Wasser, und sie lachen, aber ich schwimme weiter, ich schwimme an ihnen vorbei, es ist die neunzehnte Bahn, noch einmal hin und zurück, dann bin ich fertig.

Die letzte Bahn spüre ich immer, die letzte Bahn ist anstrengend, wirklich anstrengend, und oft denke ich, alle anderen Bahnen davor sind im Grunde unbedeutend, es kommt immer nur auf die letzte Bahn an, und ich versuche meine Kraft zu sparen, sie mir für die letzte Bahn aufzusparen, aber es klappt nur selten, meistens muss ich kämpfen, richtig auf die Zähne beißen, um es zu schaffen, und doch schaffe ich es, ich schaffe es. Die Jungen sehen nicht, wie ich kämpfe, wie sehr ich mich anstrenge, sie reden nur, sie reden nur dummes Zeug, sicher reden sie nur dummes Zeug. Ein paar Meter, der Beckenrand ist ganz nah, ein paar Züge noch, und dann bin ich endlich fertig, meine Finger berühren die Kacheln, das ist das Zeichen. Ich ziehe mich auf den Beckenrand, zwanzig Bahnen, zwanzig, und es ist immer die letzte, die letzte ist die anstrengendste. Ich atme ein, atme aus, halte mich an der Stange fest, mein Körper ist immer noch ganz leicht, ich schwebe im Wasser, und als ich mich umdrehe, sind die Jungs verschwunden. Ich bleibe noch ein paar Minuten lang im Becken und lasse mich treiben, lege meinen Kopf in den Nacken und schaue an die Decke, die hoch und weiß ist, das künstliche Licht so grell, dass ich meine Augen schließen muss, das Wasser gluckert an meinen Ohren.

Mein Handtuch breite ich immer auf der Bank neben dem Becken aus, ich nehme es, lege es mir um die Schultern und da merke ich, dass ich zittere, und dann kriege ich auf einmal eine Gänsehaut, obwohl ich ansonsten eigentlich eher unempfindlich gegen Kälte bin. Ich ziehe die schwere Glastür auf und drehe mich im Gang noch einmal um, das Becken ist leer, und in der Halle ist immer noch keiner, nur der Bademeister sitzt in seinem Kabuff vor den Kinderbecken und liest Zeitung, und als er mich sieht, nickt er kurz, und ich winke zurück und gehe weiter zu den Duschen.

Ich benutze immer die hinterste Dusche, sie ist durch eine große Milchglasscheibe abgetrennt und wahrscheinlich für Mütter mit ihren Kindern gedacht, ich habe aber noch nie Kinder hier gesehen, ich habe hier überhaupt fast noch nie jemand anderen duschen gesehen, ich glaube sogar wirklich nur ein einziges Mal, das ist erst ein paar Wochen her, eine ältere Frau, die sich im Badeanzug geduscht und eine Seife für Männer benutzt hat, ich erinnere mich genau an den herben Duft, das war wie früher im Badezimmer, das Aftershave und der noch feuchte Rasierpinsel, die Borsten weiß vom Schaum, und dann dachte ich noch, dass ich die Frau gar nicht im Becken habe schwimmen gesehen, aber ich habe gehört, manche kommen nur in das Schwimmbad, um zu duschen, weil sie so Geld sparen wollen. Alles ist so teuer geworden. Die Duschen hier sind groß genug, ich kann mich vernünftig darin bewegen, und auch der Wasserdruck ist ausreichend, nicht gut aber ausreichend, es läuft nicht einfach so aus dem Kopf heraus wie bei so vielen anderen Duschen, und manchmal glaube ich schon, dass ich zu Hause die einzige funktionierende Dusche habe, aber natürlich stimmt das nicht, das kann nicht stimmen. Das Chlor brennt immer noch in meinen Augen, ich stelle das Wasser etwas wärmer, das ist gut, ein gutes Gefühl, alleine unter der Dusche, und ich spüre, ich kann spüren, ob noch jemand anderes im Raum ist, das konnte ich schon immer, selbst mit geschlossenen Augen weiß ich es, ob da noch jemand ist, ich wusste immer, wann Ingo nach Hause kam, wann er zu Hause war, nachts oder morgens, im Wohnzimmer, in der Diele, im Keller, und ich weiß es auch jetzt noch, ob jemand in der Kabine ist oder draußen im Gang, es sind nicht die Geräusche, ich denke, es sind die Körper, ich glaube, ich habe irgendwo einmal gelesen, dass Körper eine Strahlung aussenden, eine Art Energie, aber ich weiß nicht, ob es stimmt.

Die Umkleidekabine liegt am Ende des Gangs, ein langer gekachelter Raum mit abschließbaren Fächern für Kleidung und Wertsachen, und als ich meine Klamotten aus dem Fach nehme und das Schlosspfand auf die Bank lege, damit ich die Münze nachher nicht vergesse, da weiß ich es, da spüre ich es. Ich föhne meine Haare nur an, ich trage sie seit Jahren kurz, außerdem scheint die Sonne, das sehe ich durch die Fenster, und als ich durch das Drehkreuz in die Vorhalle gehe, steht eine Gruppe vor der Kasse, alles alte Männer in ausgebeulten, abgetragenen Trainingsanzügen, die laut lachen und auf ihren Handflächen das Kleingeld zusammensuchen.

Draußen ist es schon warm, Anfang Mai, bald öffnet das Freibad. Er steht an der Ampel, sein Freund ist weg, er muss schon gegangen sein, ich sehe ihn jedenfalls nicht mehr. Sein Haar ist noch nass, er hat es nach hinten gekämmt, und über der Schulter trägt er einen Rucksack. Er steht da ganz alleine. Vom Seidenberg kommt die 510, der Bus hält vor dem städtischen Gymnasium, Menschen steigen aus und ein, und ich habe meine Fahrkarte schon in der Hand. Es ist schön, sage ich mir, es ist ein schöner Tag, ich laufe, ich gehe zu Fuß, es ist nicht weit, und so erschöpft bin ich nicht, die frische Luft wird mir guttun.

Laufen ist nicht wie Schwimmen, das ist eine andere Art der Bewegung, ich halte Abstand, lasse ihn vorgehen, vierzig, fünfzig Meter, ich wechsele die Straßenseite, es ist eine schmale Straße, und sehe ihn die ganze Zeit zwischen den Autos, hinter den Autos, ich sehe ihn durch die getönten Scheiben, seinen Schatten an den Wänden, es ist nur ein Junge, denke ich, und sicher geht er nach Hause, er geht nach Hause, und kurz überlege ich, ob dort jemand auf ihn wartet, ob ihn jemand empfängt, ihn umarmt, ihn küsst, ihm etwas zu Essen macht?, und dann überlege ich, ob heute vielleicht ein Feiertag ist, einer dieser Feiertage, an die man sich nie erinnert, die immer so plötzlich und überraschend kommen, aber nein, es ist nur ein ganz normaler Freitag, ein Freitag an dem ich schwimmen gehe wie an jedem Freitag.

Mit nassen Haaren, da kann man sich erkälten, das geht ganz schnell, selbst wenn es draußen warm ist, man hört ja so allerlei, ständig sind die Kinder krank, und was, wenn da wirklich etwas Ernstes draus wird? Das wünscht man keinem. Vielleicht geht er erst jetzt zur Schule und hatte einfach ein paar Freistunden, vielleicht ist der Unterricht ausgefallen, weil wieder die Lehrer fehlen, das scheint ja mittlerweile ein echtes Problem zu sein, früher ist nie Unterricht ausgefallen, ich hätte es mir oft gewünscht, aber es ist nie passiert, ich denke nicht gerne an meine Schulzeit zurück. Es ist so ruhig in dieser Straße, es ist eine von den Straßen, die man nur selten benutzt, noch seltener zu Fuß geht, und ich denke immer, die Straßen und Häuser wirken dann so anders, wenn man nicht dran vorbeifährt, wenn man sie nicht aus dem Auto heraus sieht, ein schneller Blick, da prägt sich nichts ein, da sieht man an vielem vorbei, man sieht vieles nicht richtig, dabei ist es eine schöne Straße, mit schönen Häusern, Altbauten, restaurierte Fassaden, Blumen in den Fenstern, alles ist ordentlich und gepflegt, das ist mir nie so aufgefallen, weil man eben nicht hinsieht, und jetzt sehe ich eben hin.

Wir bleiben an der roten Ampel stehen, es tropft aus seinen Haaren auf den Asphalt, kleine, dunkle Punkte, und es ist auch kühler geworden, der Himmel auf einmal bedeckt, und sein Rucksack ist halb offen, ich kann hineinsehen, und in dem Moment, in dem ich es sagen will, gerade als ich sagen will, dein Rucksack steht offen, man könnte dir etwas klauen, man könnte dich beklauen, pass lieber auf, pass besser auf, da wird es Grün und der Junge geht weiter, er geht weiter mit seinen nassen Haaren und dem offenen Rucksack, ich bleibe noch an der Ampel stehen, ich warte, bis er die Straße überquert hat.

Ich folge nicht ihm, denke ich, ich folge dem offenen Rucksack, ich blicke auf den schmalen, dunklen Schlitz, und ich würde gerne wissen, was in diesem Rucksack ist, ob es nur ein Handtuch ist oder die ausgewrungene Badehose, vielleicht noch etwas Kleingeld, damit er sich etwas zu essen kaufen kann nach dem Schwimmen oder ein Buch, ein Schulbuch oder ein Tagebuch, vielleicht auch etwas ganz anderes? Vielleicht etwas Verbotenes, ein Geheimnis, vielleicht ist es etwas, dass der andere Junge ihm geschenkt hat und niemand anderes darf es wissen, niemand darf davon erfahren. Wir sind schon fast in der Fußgängerzone angekommen, als er sich das erste Mal umdreht, er sieht sich nur kurz über die Schulter, aber da ist nichts, er sieht mich und er sieht mich an, doch er lächelt nicht einmal, er geht einfach weiter, als wäre da nichts, und ich bleibe stehen und schaue ihm hinterher, und jetzt spüre ich die zwanzig Bahnen, ich spüre sie alle auf einmal, ich spüre die Anstrengung und dass ich keine Kraft mehr habe, ich habe einfach keine Kraft mehr dafür, ich kann ihm nur noch hinterhersehen, wie er langsam an den Geschäften vorbei geht, weiter auf dem Kopfsteinpflaster, sich immer weiter entfernt, sich immer weiter von mir entfernt, bis er in der Menge verschwunden ist. Einmal sehe ich noch den Rucksack, aber es ist zu weit weg, ich sehe kurz den hellgrauen Stoff, und dann ist er verschwunden.

Ich gehe langsamer, ich bleibe fast stehen, ich sehe in eins der Schaufenster, so viele neue Geschäfte, denke ich, und sie alle wollen dir irgendetwas verkaufen, was du eigentlich nicht brauchst, denn was braucht man denn schon wirklich?, denke ich, und dann gehe ich weiter, am alten Friedhof steige ich in die 510, obwohl ich weiß, es ist nur noch eine Station, und der Bus ist voll, ich bleibe neben dem Fahrer stehen und steige vorne aus, und diese Straße kenne ich, ich kenne sie sehr gut, rechts der Orthopäde, links das Nagelstudio, und da ist keine Post, nur ein Werbeprospekt, Fernreisen, der Schlüssel fühlt sich kalt und schwer an in meiner Hand, klack klack, und ich bin im Hausflur, der nach Staub und warmem Kirschkuchen riecht, es riecht dort immer so, ich weiß nicht, warum.

Ich mag die Stille, das weiß ich, ich sitze in meiner Küche und schaue aus dem Fenster, die Wipfel der alten Linde bewegen sich, aber alles ist ganz still, und es ist erst vormittags, doch ich fühle mich müde, ich könnte das Efeu im Garten schneiden oder mir einen Tee kochen, aber ich bin müde, zwanzig Bahnen, denke ich, das ist schon eine Menge, nicht viele in meinem Alter schaffen das, und nur die letzte ist anstrengend, und ich weiß, ich könnte noch so viele Dinge tun, doch alles, was ich tun kann, ist mich auf mein Bett zu legen, und dann liege ich da und schließe meine Augen und alles ist weit weg, vielleicht sind diese Dinge nicht wichtig, wer kümmert sich schon um ein wenig Efeu?, denke ich, und Tee kann ich immer trinken, morgens, abends, wann immer ich will, und es ist weich und warm hier, mein Kopf auf dem Kissen, und ich will dem Jungen doch nur sagen, hier, du, dein Rucksack, und ich will ihn in den Arm nehmen und ihm die Haare trocknen, mit einem meiner guten Handtücher, ich will ihm auf die Stirn küssen und sagen, alles ist gut, alles ist gut, du bist zu Hause, hier ist dein zu Hause, und was möchtest du essen?, ich habe alles da, Fisch und Fleisch und Schokolade und Eis, alles, ich habe alles, du musst es nur sagen, du musst dich nicht schämen, Ingo mochte Bier zu seinem Kuchen, das fanden alle immer seltsam, aber ich habe das verstanden, er mochte es eben einfach so, bei mir wirst du dich wohlfühlen, du darfst auch Fernsehen, du darfst fernsehen bis es dunkel draußen wird, und ich könnte dir so vieles erzählen, so vieles, und dann gleite ich wieder durch das Wasser, ich bin ganz leicht, ja, ganz leicht, wie nach zwanzig Bahnen, ich schwebe, ich halte den Jungen fest und ziehe den Reißverschluss an seinem Rucksack zu und der schmale, dunkle Schlitz ist weg und ich sage, hör zu, dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben, ich verrate es niemandem, glaub mir ruhig, glaub mir einfach, ich sage es niemandem, ich sage niemandem etwas.

Nachtigall

Ich lebe in niedrigen Gebäuden; kein Gebäude, in dem ich jemals gelebt habe, hatte mehr als drei Stockwerke. Doch meine Tochter lebt in einem hohen Gebäude, in einem sehr hohen Gebäude, es hat mehr als dreißig Stockwerke. Ich war noch nie im obersten Stockwerk. Ich denke: Was ist, wenn ausgerechnet jetzt das Gebäude zusammenstürzt? Man kann darüber lachen, ja. Aber man kann auch darüber nachdenken, ob die immer genau wissen, was sie machen? Weiß man das?

Ich halte mich die meiste Zeit über in der Wohnung auf. Ich sitze in der Küche und rauche, obwohl meine Tochter das nicht will, nie gewollt hat. Ich öffne das Fenster, ich kippe es nur an, ich sehe dabei nicht durch die Scheiben oder nach unten. Auch das macht mir Angst. Ich rauche die schwarzen American Spirit, die es hier in der Stadt noch zu kaufen gibt, ich habe gleich eine Stange gekauft. Ich rauche zwei hintereinander, ich habe das schon immer so gemacht, ich kann nicht nur eine einzige Zigarette rauchen. Ich trinke dazu eine Tasse Kaffee, ich trinke sie aus einer dieser modernen Schalen, die meine Tochter besitzt. Sie hat gleich eine ganze Serie gekauft, alle in der gleichen Form, jedoch in unterschiedlichen Farben, es sind blasse Farben, die ich nur schlecht unterscheiden und auseinanderhalten kann. Braun? Beige? Erdfarben? Ich weiß es nicht. Ich asche auf einen Unterteller, der die Farbe einer aufgeplatzten Frucht hat. Ich spüle diesen Unterteller nach jeder Kippe unter heißem Wasser ab, damit es meiner Tochter nicht auffällt, aber ich denke, sie würde es merken, so oder so.

Ich bin seit drei Wochen hier, in dieser Wohnung, in ihrer Wohnung. Die Wohnung liegt im 22. Stock. Es klingt seltsam, das einfach auszusprechen, zweiundzwanzig Stockwerke, weil ich glaube, dass Menschen dafür einfach nicht gemacht sind. Menschen sollten nicht in diesen Höhen leben, kochen, schlafen. Menschen gehören nah an die Erde, auf die Erde. Ich passe auf die Wohnung auf, doch im Grunde müsste ich das nicht tun, es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme.

Ich brauche Routine. Ich bin ein Mensch, der eine gewisse Routine benötigt. Also stehe ich jeden Morgen um sechs Uhr auf und mache mir einen Kaffee. Das ist das Erste, was ich tue. Ich benutze immer die gleiche Tasse, es ist eine schwarze Tasse mit dem Aufdruck SPREEWALD, und ich weiß nicht, wann meine Tochter im Osten gewesen ist, aber ich erinnere mich, dass sie gesagt hat, sie hat eine Tasse aus dem Osten mitgebracht, als Andenken. Sie muss ja dort gewesen sein, sonst würde das alles keinen Sinn machen.
Ich kippe richtige Milch in meinen Kaffee, Milch von Kühen, doch meine Tochter hatte nur Hafermilch da, aber die Tüte war schon umgekippt und sauer geworden, obwohl ich darüber nicht genau Bescheid weiß, wird Hafermilch sauer?
Es gibt einen Supermarkt, der am Ende der Straße liegt, es ist eine lange Straße, ich gehe sie jeden Mittag entlang genau bis zu diesem Markt. Ich kaufe dort immer nur für den Tag ein, da ich nicht weiß, wie lange ich bleiben werde. Ich will nicht, dass etwas schlecht wird oder faulig. So bin ich eben. Ich kaufe eine Tüte Milch, echte Milch, und dann eine Gurke, vielleicht drei oder vier Tomaten, eine Zwiebel. Der Metzger dort ist gut, das hätte ich nicht gedacht, sie nennen es einfach Fleischtheke, aber es müssen ja doch Metzger sein, sie wissen jedenfalls, was sie tun. Meistens kaufe ich ein Stück vom Rind, heute hatte ich Hüftsteak, scharf angebraten, mit einem kleinen Salat und ein paar Scheiben Weichkäse. Danach rauchte ich meine zwei Zigaretten und wusch das Geschirr ab, ich lasse es nicht einfach so abtropfen, sondern trockne es mit einem neuen Handtuch ab, räume alles gleich wieder an seinen Platz. Alles hat seinen Platz. Alles hat seine Zeit. Das denke ich. Ich denke auch, dass ich nicht hierhin gehöre, aber das ist eine andere Geschichte. In dieser Geschichte geht es um meine Tochter, auf die ich seit drei Wochen warte.

In einem solchen Haus, in einem solch großen Haus mit so vielen Stockwerken, scheint immer etwas zu passieren, Türen gehen auf und zu, Stimmen, Lachen, die Hydraulik des Aufzuges, da ist immer etwas, nie ist es still, und ich muss mich schon in die Küche setzen, dieser Raum liegt weit innen und hat nur ein kleines Fenster, um so etwas wie Stille zu haben, doch auch hier brodelt es hinter den Wänden, in den Wänden, alles vibriert und klingt und ist unruhig. Ich setze mich in den letzten Winkel der Küche, gegenüber des Kühlschranks, die Wand hinter mir ist eine tragende Wand, und dann lehne ich meinen Kopf an die Stuhllehne und schaue an die Decke, von der ich glaube, dass sie sich manchmal bewegt.

Ich rauche nur hier in der Küche. Ich rauche und trinke Kaffee, den löslichen Kaffee, den meine Tochter trinkt, sie trinkt nur löslichen Kaffee, und ich messe drei Esslöffel Milch ab, echte Milch, die Milch einer Kuh, so viel Milch rühre ich in den Kaffee, drei Esslöffel, dann kann ich ihn trinken. Ich trinke ihn langsam, und ich rauche langsam, so langsam, bis ich den letzten Schluck nach dem letzten Zug nehmen kann, dann ist es gut, dann ist es ein guter Tag, wenn ich das wenigstens einmal geschafft habe.

Es ist auch eine große Wohnung, ich war erstaunt, wie groß sie ist, es eröffnen sich immer neue Räume, einer hier, der andere da, und dort noch eine Schrankwand, die mir zuerst nicht aufgefallen ist, voll gestellt mit Winterkleidung und alten Koffern und Stiefeln, wie sie mal in Mode waren, aber längst nicht mehr sind, ein paar Bilder, Familie und Urlaub, wie man da so macht, glaube ich, jeder macht das, oder?, und eine Abstellkammer, in der Putzmittel und Besen stehen, Desinfektionsmittel und Spülschwämme, Konserven und ganz hinten noch zwei Gläser eingelegte Gurken, ich überlegte kurz, ließ es dann aber bleiben, denn ich muss auf meine Linie achten. Früher, da habe ich mit meiner Tochter Gurken selbst eingelegt, wir haben sie auf dem Markt gekauft, und sie hat dann später in der Küche die Zutaten abgewogen, Salz, Zucker, Essig und die Gewürze, wir haben die Gurken geviertelt und in die ausgespülten Gläser getan und sie mit dem heißen Sud aufgefüllt; das Schlimmste war das Warten, man muss doch warten!, mindestens einen, besser zwei oder drei Tage. Sie war ungeduldig, schon immer, so ungeduldig. Aber sind nicht alle Kinder ungeduldig?

Man fühlt sich klein, ich fühle mich klein, in einer solchen Wohnung, in einem solchen Haus. Zweiundzwanzigstes Stockwerk! Es gibt da etwas, ein kleines Geheimnis, und das wird meine Tochter nie herausfinden, das kann sie gar nicht herausfinden, denn wie will sie das anstellen? Ich bade jeden Abend. Ich lasse mir jeden Abend ein Bad ein. Jeden Abend. In meiner allerersten Wohnung, das war eine Zwei-Zimmer-Dachgeschosswohnung in der Hopfengartenstraße, nichts Besonderes, aber da habe ich eine Badewanne gehabt, eine richtig schöne, große Badewanne, in der ich mich ausstrecken konnte. Ich bin nicht gerade klein, knapp Eins neunzig, und in den meisten Wannen muss ich meine Füße auf den Rand legen, doch nicht in dieser, das war eine Wanne wie für mich gemacht. Und so ist diese Wanne hier auch, ich meine die Badewanne in der Wohnung meiner Tochter, sie ist auch wie für mich gemacht, und so liege ich manchmal eine Stunde nur so da, die Ohren unter Wasser und höre auf das Gluckern in den Rohren, unter Wasser klingt ja alles anders, ganz fremd und seltsam, ich liege da bis das Wasser eiskalt und meine Haut wellig ist.

Ich komme mir dann später, wenn ich mich abtrockne und alles, immer jünger vor, jünger als ich wirklich bin, weil ich mich über solche Kleinigkeiten noch freuen kann, so Kleinigkeiten wie eine Badewanne, in die ich reinpasse. Man darf das nicht verlieren, man muss das behalten, dass man sich von Zeit zu Zeit mal zurücklehnt und sagt, das ist gut so, das ist schön, sonst weiß man nachher nicht mehr, warum man das überhaupt alles tut. Und für wen? Für wen tut man das? Ich putze die Badewanne danach, ich putze sie jedes Mal gründlich, damit sie richtig sauber ist, ich mag es nicht, irgendwelchen Schmutz zu hinterlassen, ich nehme die Scheuermilch und einen Schwamm und dann … jedes Mal, damit es keinen Rand gibt. Es soll so aussehen, als hätte ich die Wanne nie benutzt, als sei ich gar nicht dagewesen, in der Wanne und in der Wohnung meiner Tochter.

Ich schlafe auf der Couch, das ist etwas schwierig, weil sie schmal ist und ich zugelegt habe, ich bin breit und wiege einhundert Kilo, meine Tochter sagte immer Club 100 dazu, und sie hat mich oft versucht zu überreden, dass ich mich endlich in einem dieser Fitnessstudios anmelde, aber ich habe es dann doch nie gemacht, ich habe es auch nicht vor, ich glaube, das ist einfach nichts für mich. Die Couch steht im Wohnzimmer, und ich schaue noch fern, bis ich dann endlich einschlafen kann, weil es keine richtigen Vorhänge gibt, es wird nie dunkel, dunkel genug für mich, und ich höre auch den Verkehr von draußen, weil ich nicht mit geschlossenen Fenster schlafen kann, ich brauche frische Luft, es hört nie auf, immer Autos und Lastkraftwagen und Flugzeuge und Leute, die schreien und lachen, nie ist Ruhe. Das Fernsehen lenkt mich ab, meine Tochter hat Kabel, auf jeden Fall jede Menge Sender, mehr als man braucht, und irgendwann schlafe ich ein, meistens zu einem alten Film, die Stimmen beruhigen mich, sie sind so gleichmäßig und leise.

Unten im Haus, ganz unten, im Keller, da gibt es einen Raum mit Waschmaschinen, man wirft ein paar Münzen ein und kann seine Wäsche waschen, sie haben da auch Trockner. Ich habe nicht viel mitgebracht, im Grunde nur das, was ich anhabe und ein paar Unterhosen und Socken, die sowieso immer im Auto liegen, für Notfälle, ich musste mir sogar eine Zahnbürste kaufen in dem Supermarkt am Ende der Straße. Ich war heute unten, in diesem Keller, bei den Waschmaschinen, und habe Unterhosen und Socken und mein Hemd gewaschen, nur drei Teile, aber es musste sein, es ging nicht mehr anders, und ich kenne mich aus, Buntwäsche, Kochwäsche, ich habe gewartet, weil ich nicht wieder den langen Weg nach oben gehen wollte, ich benutze immer das Treppenhaus, nie den Aufzug, ich misstraue Aufzügen, weil ich mal in einem stecken geblieben bin, seitdem gehe ich zu Fuß, aber es ist natürlich anstrengend, Club 100 und dann in den zweiundzwanzigsten Stock!, das überlegt man sich schon, ich gehe den Weg ja schon zweimal jeden Tag, wenn ich zum Einkaufen gehe und dann wieder zurück, das spüre ich richtig in den Beinen. Ich hab dann der Waschmaschine zugeguckt, wie sich die Trommel dreht, und hab die Frau zuerst gar nicht bemerkt, sie stand einfach da und hat ihre Wäsche sortiert, und dann hat sie auf einmal dieses Geräusch gemacht, man kennt das. Jeder hat das schon einmal gehört, so ein Geräusch, und ich konnte dann nur noch fragen, was los ist, und sie hat geantwortet, dass ich das gar nicht wissen will. Dass ich es nicht so genau wissen will, das waren ihre Worte, genau.
Ich wohne nicht hier, habe ich gesagt, ich wohne nicht in diesem Haus, ich bin nur zu Besuch, noch ein paar Tage, dann geht es wieder zurück.
Sie meinte, das Haus sei grässlich, es würde in der letzten Zeit nach Pisse stinken, nach Pisse, und früher sei sowieso alles viel besser in Schuss gewesen, es würde sich keiner kümmern, keiner kümmert sich, hat sie gesagt, man lässt uns mit allen Problemen hier alleine. Und wer, wen würde ich besuchen?
Meine Tochter, sagte ich, zweiundzwanzigster Stock, und sie sagte, sie wohne im elften Stock, das sei ja genau die Hälfte, und dass sie immer hier ihre Wäsche macht, eine eigene Waschmaschine würde sich nicht lohnen.
Von wo ich komme, wollte sie wissen, und ich sagte ihr, dass sie das wahrscheinlich nicht kenne, und dass ich noch nie in einem Haus gelebt habe, das höher als drei Stockwerke ist.
Dann wollte sie noch wissen, ob sie meine Tochter kennt, meine Tochter, die auf dem zweiundzwanzigsten Stock wohnt, und ich habe gesagt, dass ich das nicht sagen könne, ich es aber nicht glaube.
Ja, so sei das, in einem solchen Haus, man kennt nicht mal mehr seine Nachbarn, in einem solchen Haus lebt man immer wie ein Fremder, und dass sie eigentlich viel lieber weiter draußen wohnen wollen würde, im Grünen, wie sie sagte, so nannte sie es, im Grünen, und ich habe gesagt, dass wir beide wohl jetzt in einem Alter sind, wo man sich damit abfinden muss, nicht mehr alles machen zu können, was man machen will oder machen wollte, wir sind jetzt in einem Alter, wo manches eben so ist, wie es ist und auch so bleiben wird, manche Dinge ergeben sich eben und andere nicht, und manche Dinge lassen sich nicht erzwingen, auch wenn man das gerne so haben würde, es geht nicht.
Ja, sagte sie, so ist das wohl.
Morgens hört man hier manchmal Vögel, habe ich noch gesagt, meine Wäsche war fertig und ich wollte nicht einfach so gehen, ich wollte nicht einfach so dieses Gespräch beenden, weil ich Manieren habe und man so etwas einfach nicht macht, wo die Frau mir doch gerade erst erzählt hatte, dass alle hier im Grunde Fremde sind, ich höre sie, sagte ich, ich weiß nicht, ob die anderen im Haus sie auch hören können, können Sie die Vögel hören?, in der Wohnung meiner Tochter kann ich sie jedenfalls hören, es sind Tauben, ja, Tauben, sie nisten in der Nähe, ihr Gurren ist oft ganz nah, und deswegen glaube ich auch, sie könnten gleich hier unter dem Dach nisten, oder auf dem Dach, aber das weiß ich nicht, weil ich da noch nie gewesen bin. Nein, sie würde keine Vögel hören, im elften Stock könnte sie das nicht, da würde sie keine Vögel hören, nur den Lärm der Autos und der Nachbarn, aber keine Vögel, und auf den Gängen würde es nach Pisse stinken, ständig stinkt es dort nach Pisse in letzter Zeit.

Ich habe abends in der Badewanne gelegen und darüber nachgedacht. Da wo ich herkomme, da hört man Vögel, alle Vögel, die es so gibt, denke ich. Es ist nichts Besonderes, es ist einfach so. Ein Haus mit dreißig Stockwerken wäre etwas Besonderes, aber nicht, dass man Vögel hört. Drei Wochen bin ich jetzt hier, in diesem Haus, und ich weiß jetzt, dass manche Menschen sterben, bevor sie eine Nachtigall singen gehört haben. Das ist nicht weiter schlimm, es war nur so ein Gedanke, den ich hatte, der mir einfach so gekommen ist, es gibt Menschen, die nie eine Nachtigall singen hören werden, und es gibt Menschen, die nie in einem Haus mit dreißig Stockwerken leben werden. So ist das manchmal im Leben.

Ich warte auf meine Tochter. Seit drei Wochen warte ich auf meine Tochter. Das ist ein seltsames Gefühl, hier, in ihrer Wohnung auf sie zu warten, in diesem Haus, aber es ist nicht zu ändern, auch wenn es mir nicht gefällt, es ist, wie es ist, und ich denke, lange wird es nicht mehr dauern, nicht mehr dauern können, sie kommt, sie kommt in den nächsten Tagen, vielleicht bis zum Wochenende, bis zum Wochenende muss ich warten, bis zum Wochenende warte ich noch auf meine Tochter.