Zusammenfassung der Ereignisse
by Sven Heuchert
Das Fahrrad lehnte da an der Hauswand, es war nicht mal abgeschlossen. Ich glaube, ich habe noch niemals zuvor etwas gestohlen. Nein, das stimmt nicht: ich stahl meiner Tante einmal 100 Mark und wurde dabei natürlich gleich erwischt. Ich war noch ganz klein, ein Kind. Der Schein lag in einem aufgeschlagenen Buch auf dem Wohnzimmertisch, und er sah so neu und schön aus, ich konnte einfach nicht anders. Das ist keine Entschuldigung, aber zumindest der Versuch einer Erklärung.
Das Rad ist gut, es ist alt, noch mit Drei-Gang-Schaltung, doch alles funktioniert bestens; die Kette geölt, die Pedale leichtgängig. Ich bin lange kein Rad mehr gefahren, aber das ist ja eins der Dinge, die man nicht verlernt, die man nie verlernt. Verlernt man das Küssen? Vielleicht, ich bin mir nicht sicher. Es ist kalt geworden, die Esche unten im Kreisverkehr hat ihre letzten Blätter verloren, und es ist auch schon spät, bereits nach Mitternacht, kaum Verkehr. Ich nehme die Füße von den Pedalen, strecke die Beine aus, der Fahrtwind bläht mein Shirt auf, das fühlt sich gut an, als sei ich wieder jung, vielleicht dreizehn, als wir gerade das Bier und die Zigaretten für uns entdeckte hatten und noch von Amerika träumten.
Nachts ist die Stadt anders, ganz still und scheinbar größer, verwinkelter: da gibt es plötzlich Häuser, von denen ich glaube, sie noch nie gesehen zu haben. Einfahrten tun sich auf, ganze Plätze und gedimmtes Licht scheint in und aus mir bisher fremden Ecken, und die Orte, die man kennt, die man selbst in der Dunkelheit genauestens erkennt, die wirken kühler, distanzierter; das macht sie auf eine seltsame Art anziehend und auch ein wenig gefährlich. Im Wiedererkennen lebt ja stets die Vergangenheit wieder auf, wenigstens Bruchstücke davon, das Fragment einer Erinnerung, längst verblasst – dort hast du dies, und dort das, hat man es getan oder doch nur geträumt?, oder war das nicht ganz woanders? Keine Nostalgie, denn ich bewege mich durch die Gegenwart, das Jetzt; die Luft ist so kühl, die Luft ist mein Zeuge, ich atme, hier kann ich atmen, schon ist die Vergangenheit verschwunden.
Ich drehe eine große Runde, den Seidenberg hoch zum Stallberg, wo ich aufgewachsen bin, wo ich schief ins Leben gewachsen bin (vielleicht waren es ja doch die Dämpfe der Fabrik gegenüber?), ich muss mich anstrengen, wirklich anstrengen, das geht gut in die Beine, schon schwitze ich, vorbei am Holzhandel, am TÜV, ich biege an den Genossenschaftshäusern in den Kiefernweg ein, die Häuser dort allesamt dreigeschossig, grünspanige Dachpfannen, die Fensterläden aus splittrigem Holz, und jede der Fassaden grau verputzt, nur ein schmaler Streifen Rasen zwischen den Einheiten, davor leere Wäschespinnen auf Betonflächen: alles liegt still und dunkel da, nichtmal ein einsames Licht brennt (keine Klischees!), nichts hat sich hier verändert, nichts verändert sich hier je. Halt! Wo früher die Fabrik stand, stehen nun moderne Mehrfamilienhäuser, doch auch hier sieht eins aus wie das andere, mittendrin ein Spielplatz; meine Güte, die Kinder!, was ist nur mit den Kindern? Zehn Meter Aushub, und wo sind eigentlich die ganzen Altlasten hin?, einfach draufgebaut habe man, drübergebaut, die jungen Familien, wo sollen sie denn sonst hin? Und ja, Zellwolle haben sie hier mal hergestellt, das ist richtig, siebzig Jahre lang nur Zellwolle! Unter der Hand erzählt man sich, dass in der Baugrube einer von den Behörden kaputt gegangen sei, kurz nach dem sie die Fabrik zurückgebaut hatten und nun die Emissionen in der Erde messen wollten, die Schadstoffbelastung; der Schäng darunter mit seinem Meßgerät und direkt um, ömm, wie man hier sagen würde, aber niemand weiß etwas Genaues (man weiß nie etwas Genaues, wenn man nicht genau weiß, was los ist.)
Zurück, den Seidenberg wieder runter, ich gleite wie durch Gelee, wir haben früher öfters LSD genommen, Frank und Marco und ich, und genau hier, genau hier am Toyota-Autohaus sind wir einem riesigen weißen Huhn begegnet, was sich dann bloß als Plastiktüte vom Kierdorf herausgestellt hat, ein Supermarkt, den es schon lange nicht mehr gibt. Ich kenne ihn natürlich noch, den alten Kierdorf, ich und Frank und Marco kennen ihn noch, Frank ist tot (Autounfall) und Marco hat drei Kinder von drei verschiedenen Frauen, ich war auf jeder seiner Hochzeiten, Wein, Bier, Schnaps, die gleichen blöden Sprüche, Ja-ich-will, bis zum bitteren Ende-Gelände. So ist das eben, denn ich bin dageblieben, hiergeblieben, viele andere sind ja weggegangen, oder besser gesagt: geflohen. Die haben ihr Glück woanders gesucht (wir erfahren ja nie davon, ob sie es auch gefunden haben) und die, die wiederkommen oder wiedergekommen sind, wiederkommen mussten … der Mantel des Schweigens, man weiß es ja, ich weiß es doch, die Heimat ruft! Nein, das mit den Kindern und der Frau und der anderen Stadt, der großen, großen Stadt, das passte nicht mehr, das funktionierte nicht mehr, irgendwann, irgendwie, das hatte sich dann ausgeträumt und das schmeckt dann sicher auch schon etwas nach Niederlage (ich kenne es ja selbst), aber in den Gängen des LIDLs, wenn man sich rein zufällig begegnet, da nickt man sich trotzdem zu: Hey!, und lächelt, als sei man immer noch befreundet, als verbinde da einen noch etwas.
Später, viel später, es kommt mir endlos lang vor, ich bin über die Viehtrift gefahren, eine Abkürzung durch den Wald (wie ist das passiert?, Automatismen) es duftet nach Harz, nach feuchter Erde, und die Luft wird gleich um ein paar Grad kühler, merklich kühler!, wie ein alter Mann wohl sagen würde, und da fällt mir auf, dass ich in die Morgendämmerung fahre. Zwischen den Bäumen, über dem Moos, da dampft es regelrecht, wird es schon Winter?, man kann die Jahreszeiten ja nur noch schlecht auseinanderhalten, früher, ja früher … zehn Zentimeter Schnee!, da wusste man gleich, was Ambach ist! Dann, endlich wieder zuhause, ich stelle das Rad genau dort ab, wo ich es gefunden habe, ich lehne es einfach wieder gegen die Straßenlaterne und gehe, ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich bin ganz leise und vorsichtig im Treppenhaus, die anderen schlafen ja noch, ein seltsames Gefühl; ich lege mich mit dem letzten Weberlicht ins Bett und schlafe doch sofort ein. Ich träume, ich wache auf. Ich bin dageblieben. Bin ich dageblieben? Manchmal denke ich, ich bin ganz woanders, ich sehe alles aus den Augen eines Fremden, der sich an einen Traum erinnert; nur ganz langsam entstehen die Bilder, an den Rändern sind sie noch unscharf, unklar, was sehe ich hier eigentlich?, wen oder was sehe ich hier? An guten Tagen kann ich immer noch das Meer spalten, das haben wir früher immer gesagt, als wir uns für unbesiegbar hielten und es im Grunde auch waren, denn was wussten wir schon? Noch vierzehn Sekunden bis zum Sonnenaufgang.
Durch den kommenden Morgen schleppe ich mich wie durch ein Schlachtfeld, die Glieder sind mir schwer geworden und werden immer schwerer, ich esse ein Stück Blauschimmelkäse und eine Tomate mit Meersalz; es nützt nichts, die Lider fallen mir ja wieder zu. Ich schaffe es noch auf die Couch, decke mich mit einer alten Jagdecke zu, es ist die älteste und wärmste die ich besitze, ich mag ihren Geruch, ein wenig nach wilder Sau und Kien, und als ich aufwache, habe ich keine Erinnerung daran, aber der Plattenspieler läuft, (Van Morrison, Astral Weeks), und dann ist es auf einmal wieder dunkel, ist es wieder abends, nachts; träume ich das hier nur, habe ich das nur geträumt? Nein, das kann nicht sein.
Ich will rauchen, das fällt mir ein, eine erste Regung, doch erstmal nehme ich einen großen Schluck Cognac, ich nehme ihn direkt aus der Flasche, das beruhigt mich, glaube ich, dann öffne die Fenster weit und zünde ich mir eine Toscanello an, die Packung finde ich doch tatsächlich in meinem Pullover, wie zufällig (aber das ist egal jetzt), jedenfalls stecke ich mir eine in den Mund und geb Feuer raus und ziehe heftig, so lang, bis sie brennt, wirklich brennt, bis ich den starken Tabak schmecke, erst dann lehne ich mich hinaus auf das Sims – nein, es ist tatsächlich Nacht! Noch ein Schluck Cognac, ich habe ihn aus Frankreich mitgebracht, nur schmeckt er nicht richtig, fühlt sich falsch an auf meiner Zunge: unangenehm dünn und scharf, ich spucke es aus, ich spuck’s in die Dunkelheit. Das Rad steht immer noch da, gerade da unten an der Straßenlaterne, ich sehe es im gelben Licht, und es scheint unberührt, das fällt mir tatsächlich als erstes ein, denn so wirkt es, als habe es niemand mehr angefasst, nicht bewegt, um keinen Zentimeter verschoben. Nein, nein, nicht mehr heute, nicht jetzt, warum? … ich rauche und schaue, schaue und rauche, ich rauche schnell, wie ein Verrückter, ich rauche noch, als ich wieder auf dem Rad sitze und meine Runde drehe – Kreisverkehr, Seidenberg, Viehtrift – auf der Siegbrücke halte ich kurz an und schnippe den Stumpen in den Fluss, und als die Glut auf der Wasseroberfläche zerspringt, da ruft jemand: Hey!, das ist einer dieser langgezogenen, unbeholfenen und kehligen Laute, die immer so klingen, als habe man denjenigen beim Schlafen gestört, gar geweckt, aus einem süßen Traum gerissen, herausgerissen, und ich muss kurz lachen. Dann liegt etwas Totes auf dem Asphalt vor mir, ein überfahrener Igel oder eine Katze, ich weiß es nicht, ich halte auch nicht an, ich fahre einfach daran vorbei, über die Brücke, auf nach Menden und in die Siegauen, wo ich entlang der Felder und Wiesen fahre, das ist Heimat, dieses Bild, es ist ganz scharf und präzise hinterlegt, ein einmaliges Geschmacksmuster, die rheinische Landschaft, Felder und Remisen und Hecken vor klarem, blauem Himmel, die Weite durchtrennt, begrenzt von Strommasten, den in der freien Luft schwingenden Leitungen. Ich fahre unter diesen Leitungen her, folge ihnen, und ist das wirklich Strom, den ich da summen hören?, kann man Strom hören?, vielleicht ist es auch nur mein Blut, das eigene Blut, das ich höre. Weiter, an der Sieg entlang, die schimmernd wie Quecksilber da liegt, sicherlich haben wir als Kinder darin gebadet, sind darin geschwommen, in dieser Brühe, doch damals galt das Gewässer allgemeinhin als sauber, sehr sauber, und unter der Siegbrücke lag eine kleine Insel, nicht mehr als ein Haufen aus Kies und Gestein, es war eine kleine Mutprobe, denn genau an dieser Stelle war die Strömung stärker, also was jetzt?, kommst du oder bist du ein Feigling, und natürlich kam man, dann saß man da und blickte hoch zur Brücke, schaute auf den weißen Beton, der in der Sonne so glatt und nüchtern wirkte, wahrscheinlich rauchte man Marlboro Menthol oder Luckies ohne, etwas in dieser Richtung, und ein Walkman lief, und man wollte eines dieser Mädchen küssen … Über die Friedrich-Ebert wieder nach Hause, ich stelle das Rad wieder ab, ja, ja, an der gleichen Stelle, wieder an der gleichen Stelle, wem gehört es bloß, wer hat es dort abgestellt, warum? … und hier, das fällt mir jetzt, gerade in diesem Moment doch sehr auf, hier, in meiner Straße, dort, wie ich hingehöre, da ist alles so, wie immer, wie es immer war, wie es immer schon gewesen ist. Ich setze mich auf die Treppe vor dem Haus, noch ein wenig entspannen, ausspannen, ich starre nur ein wenig auf die alte Mauer, die das Grundstück von der Straße trennt, auf die Mülltonnen, das Unkraut. Nur ein paar Augenblicke, einmal ausatmen, dann gehe ich, dann gehe ich und lege mich schlafen, ich lege mich ins Bett und schlafe und wache wieder auf, und dann sehe ich nach, das ist das Erste, was ich tun werde: nachsehen, ich werde nachsehen.