Die Ankunft der Göttin

by Sven Heuchert

Tasso besorgte die Zigaretten – er stahl sie seinem Vater, der mittags von der Schicht kam und meistens nach dem Essen auf dem Sofa im Wohnzimmer einschlief. Drei Stück, eine für jeden von uns, und eine in Reserve. Ich öffnete das Gitter, weil ich einen halben Kopf größer war als Tasso, während er sich schon die erste Zigarette anzündete. Er hielt sie zwischen Zeige- und Mittelfinger, der Filter schloss nahtlos an die Lippen an. Natürlich pafften wir, gaben es aber voreinander nicht zu. Durch die Einfassung sahen wir auf die Jägerstraße, eine lange Gerade, die das gesamte Viertel durchquerte und die an der Chemiefabrik vorbei zum EDEKA-Markt führte. Wir rauchten und warteten auf die Göttin. Wir warteten seit einer Woche.

Tasso hatte sie zuerst gesehen. Überhaupt war das Ganze Tassos Idee gewesen, das mit den Zigaretten und dem Rauchen im Keller. Wir sahen von ihr am Anfang nur die Beine, lang und schlank und die Haut schimmerte bronzefarben in der Sonne. Ihr Rock war kurz, und ich meine nicht italienische Länge. Das scharfe Klicken ihrer Absätze auf dem Asphalt fast ein Tanz. Sie suchte nach etwas in ihrer Handtasche und blieb auf dem Bürgersteig vor dem Fenster stehen. Es ist eine seltsame Sache: Menschen, die nicht das Gefühl haben, beobachtet zu werden, verhalten sich so natürlich, dass man ein klein wenig mehr ihrer Seele sieht. Sie fand die Schachtel, zündete sich eine Zigarette an, und als sie sich nach vorne beugte, um das Feuerzeug mit ihrer Hand abzuschirmen, sahen wir ihr Gesicht.
Die raucht auf Lunge, hatte Tasso geflüstert.

Sie trug einen goldenen Armring, der sich eng um ihr Handgelenk schmiegte, ihr Haar war dunkel, dunkel und lang. Wir starrten auf den dreieckigen Schatten zwischen ihren Schenkeln, und als sie am Fenster vorbeigegangen war, atmeten wir aus. Wir sagten es nicht, aber wir mussten sie wiedersehen, das wussten wir beide.

Ich träumte von ihr. Ich träumte von diesem Schatten zwischen ihren Beinen. Meine Finger strichen über ihr warmes, festes Fleisch, diese glatte Nacktheit, und ihr Duft, wie sie wohl duftete, wie duftet eine Frau, eine wirkliche, echte Frau?

Wir warteten seit einer Woche. Wir trafen uns nach der Schule im Keller, pafften die beiden Zigaretten, teilten uns die dritte und warteten. Am zweiten Tag stahl Tasso vier Zigaretten, gegen Ende der Woche die ganze Schachtel. Es war Hochsommer, Mitte Juni, und gegen Nachmittag gab es eine gute halbe Stunde, in der wir nicht aus dem Fenster gucken konnten, weil uns die Sonne so sehr blendete. Dann gingen wir in den Gang vor den Kellerräumen und hockten uns in eine Ecke, mit dem Rücken gegen die kühle Wand. Einmal lösten wir vorsichtig eine Dachlatte an einem der Verhaue und stahlen eine Flasche Malzbier aus einem Kasten; es schäumte wild in unseren Mündern und war süß wie flüssiger Zucker. Auf dem Schloss stand in schwarzen Lettern UG2, aber wir wussten nicht, welchen Nachbarn dieser Keller gehörte. In diesen Stunden wirkte das Haus leer und wie ausgestorben; nur das Gluckern aus den Rohren oder das Abpumpen der Waschmaschinen, die stundenlang liefen. Wenn sich doch jemand in den Keller verirrte, schlichen wir in den hintersten Winkel des Stauraums, duckten uns in den Schatten der Schräge und warteten, bis die Sicherheitstür wieder zugezogen wurde.

Sie kommt nie wieder, meinte Tasso.
Woher willst du das wissen?
Er sah mich an und zuckte mit der Schulter.
Wir wussten es beide nicht.

An diesem Tag regnete es, das erste Mal seit Wochen. Aus der Kanalisation drang der Gestank der “Dicken”, in den Rohren festgebackenen Klumpen aus altem Fett, Haaren und Scheiße. Doch bald klarte es wieder auf, die Luft der Himmel ohne eine einzige Wolke. Die modrige Kälte aus den Kellerräumen kroch uns die Beine hinauf, aber es machte uns nichts. Wir warteten.

Im ersten Stock wohnte eine alte, alleinstehende Frau mit einem kompliziert klingenden slawischen Nachnamen. Wir sahen sie mehrmals unter der Woche, wie sie vorsichtig die Straßenseite wechselte, im EDEKA einkaufte und nach einer halben Stunde mit vollen Tüten wieder zurückkehrte. Wir hatten ihr nie Aufmerksamkeit geschenkt, deswegen fiel sie uns auch an diesem Tag nicht weiter auf. Wir hörten nur, wie draußen etwas zu Boden fiel und kurz darauf einen lauten Fluch, dann sahen wir die Konservenbüchse, die langsam auf das offene Fenster zurollte.

Sie war eine schwere Frau, die sich auch so bewegte, mit mühsamen, schleppenden Schritten. Ein großer Schatten legte sich vor den Ausschnitt des Fensters, und als sie sich bückte, konnten wir Sauerkraut in ihrem Atem riechen. Sie stützte sich mit einer Hand auf dem Asphalt ab und griff mit der anderen nach der Dose.
Sie sah mir genau in die Augen.
Is da wer, fragte sie. Da unten? Ja is da wer?
Wir bewegten uns nicht. Sie hustete und wollte die Dose vom Boden aufheben. Dann seufzte sie, und für einen Moment dachten wir, dass es jetzt vorbei wäre. Im nächsten Moment sackte sie zusammen und fiel gegen die Hauswand. Sie glitt langsam zu Boden, griff sich unter die Brust, ihr Oberteil aus Wolle rutschte nach oben, wir blickten auf die frei liegende weiße Haut, die durchsetzt war mit dünnen blauen Adern. Autos fuhren vorbei, beschleunigten am Ende der Kreuzung, Stimmen, eine Waschmaschine ging in den Schleudergang, vibrierte auf dem unebenen Plateau. Sie zuckte, ihr Arm schnellte nach oben, der Rumpf drehte sich in einer einzigen Bewegung, und dann lag ihr Kopf vor dem Fenster, der Kopf mit den grauen Haaren, die immer noch zu einem strengen Dutt gebunden waren, so eng anliegend, als seien sie nass. In ihren Augen ein Blick, der nichts fand, den Mund halb geöffnet, ihre Zunge schabte gegen die Zähne, und aus ihrer Kehle drang ein leises Pfeifen, dann nichts mehr, Stille.

Tasso fasste mich an der Schulter. Ich drehte mich um, streckte meine Hand aus, berührte sie an der Wange, nur ganz kurz, ihre Haut dort weich und noch warm. Wir schlichen durch die Waschküche davon und verschwanden im Labyrinth der Genossenschaftshäuser, wo Kinder Ball spielten und Männer grillten. Wir bekamen nichts mit von der Aufregung, die schließlich die ganze Straße ergriff, die Jägerstraße, unsere Straße. Wir bekamen nichts mit vom Blaulicht und dem Krankenwagen. Niemand hat uns jemals gefragt.

Ich war nie wieder dort, in dem fast leeren Stauraum unter der Treppe. Nein, das stimmt nicht, ich war noch einmal da, ein paar Wochen später. Ich habe die platt getretenen Kippenstummel aufgehoben und bevor ich das Fenster schloss … aber natürlich kam sie nicht, sie kam nie.