Der Versuch, zu atmen
by Sven Heuchert
Die wenigsten wissen, dass zu einem guten Gulasch Zitronenrinde gehört. Du schabst sie mit einem Schälmesser vorsichtig von der Frucht ab und gibst die hauchdünnen Streifen erst am Ende in den Topf. Schälmesser haben in der Regel eine leicht gebogene Klinge. Es muss gut in der Hand liegen. Mein Vater hat es mir beigebracht. Mit langsamen Bewegungen, die Schneide arbeiten lassen. Zitronenrinde. Ein frischer Geruch, der einem in der Nase kribbelt. Mein Vater mietete jeden Sommer ein Ferienhaus in Windeck. Immer die gleiche Holzhütte. Das Fenster in meinem Zimmer lag ostwärts, und wenn ich auf dem Bett lag, konnte ich die Sieg hören.
Ich spüre, wie das Gift kalt meinen Arm hinaufsteigt. Tropfen für Tropfen rinnt durch den Schlauch in meine Vene. Cyclophosphamid. Zu den wichtigsten Nebenwirkungen zählen Knochenmarksuppression, Haarausfall und Übelkeit. Ich stelle mir vor, wie es sich im Körper verteilt, bis ein schwarzes Herz in meiner Brust schlägt.
Die Medikamente rauben dir die letzte Kraft. Jede Bewegung schmerzt. Alles ist mühselig. Man wird langsam. Es gibt diesen Moment, an dem du aufgeben willst. Liegenbleiben. Jeder hier erlebt diesen Moment. Manche beginnen, an Götter zu glauben, an Scharlatane und die Kräfte exotischer Kräuter und Pflanzen.
Mein Vater starb im Schlaf. Ich stelle mir seine letzten Stunden vor: Wie er im Ohrensessel sitzt, die Abendausgabe der General Anzeigers liest und Kabänes zum Kaffee trinkt. Wir leugnen den Tod bis zum letzten Augenaufschlag.
Ich sehe aus dem Fenster. Die graue Waschbetonwand einer Fabrik. Dahinter Mehrfamilienhäuser. Zugezogene Vorhänge in den Fenstern. Ich schließe die Augen. In der Klinik sind es jeden Tag die gleichen Leute, bis sie schließlich nicht mehr kommen. Tot. Geheilt. Wir beobachten uns und vermessen die Vergänglichkeit.
Mein Vater hegte keine großen Ambitionen. Er war ein Mann mit simplen Bedürfnissen. Er liebte sein Leben lang eine einzige Frau. Arbeitete sein Leben lang für eine Firma. Jeden Sommer nahm er den gleichen gusseisernen Topf mit nach Windeck, um Gulasch über offenem Feuer zu kochen. Wir fuhren zu einem der Bauern in der Nähe und kauften Rinderschulter – Bug, Schaufel, falsches Filet, das ganze Stück. Das Fleisch aus der Schulter ist langfaserig und nur mäßig mit Fett durchwachsen. Es eignet sich nicht zum kurzen, scharfen Anbraten, es muss lange im Topf schmoren, um sein volles Aroma zu entfalten.
Draußen vor der Hütte gab es eine flache Grube im Sand, die mit Randsteinen abgetrennt war. Meine Mutter schichtete Splinte über zerknülltem Zeitungspapier und legte trockene Holzscheite nach. Sie hatte kleine Hände und schmale Finger. Sie war geschickt. Mein Vater parierte das Fleisch, schnitt an den Muskelrändern entlang, legte Sehnen und Knochen frei, entfernte die feucht schimmernde Silberhaut. Die Klinge immer in Richtung der Maserung. Kartoffeln und Karotten waschen, in Würfel schneiden, mit gehackten Zwiebeln in den Topf geben. Er arbeitete gewissenhaft. Ich beobachtete seine kräftigen Hände, wie die Finger über das Fleisch glitten, die Schnitte nachfühlten. Er arbeitete im Stehen, trank dazu Flaschenbier und ließ seine Zigaretten im Aschenbecher verglühen. Fond. Salz. Pfeffer. Paprika. Ganz zum Schluss die Zitronenrinde. Er hängte den Topf mit allen Zutaten über das Feuer, rührte mit einem Holzlöffel um und verschloss den Deckel. Dünner Rauch stieg aus den Lüftungslöchern am Topfrand, leises Brodeln drang aus dem Inneren.
Ich spüre das Vibrieren meines Mobiltelefon. Das Display leuchtet bläulich. Es ist die Nummer von Svea, ich erkenne sie an den letzten drei Ziffern. Für Svea habe ich nie Gulasch gekocht. Sie mag Süßes. Früher habe ich für sie fingerförmige Kekse aus Lebkuchenteig gebacken und sie mit selbstgemachter Himbeermarmelade bestrichen. Ich weiß gar nicht, ob sie überhaupt noch Fleisch isst. Heute ist es ja in Mode, kein Fleisch mehr zu essen. Vegetarier. Veganer. Die Wahrheit ist, dass diese Menschen noch nie ein anständiges Beef Wellington in ihrem Leben gegessen haben. Ich warte, bis das Vibrieren aufhört. Vor ein paar Tagen hat eine Frau, die in der Klinik neben mir lag, ein Porträt von mir gezeichnet. Ich habe geschlafen, während sie es angefertigt hat. Das Bild habe ich entdeckt, als es ihr aus der Hand gerutscht ist. Akuter Schwächeanfall. Jedem passiert es. Aus ihr wird keine große Künstlerin. Ihr Strich ist zu bemüht. Wir kamen ins Gespräch, und als ich ihr sagte, ich sei in einem anderen Leben Chef de Cuisine im Pierrot gewesen, hat sie mir erzählt, sie habe dort einen Tag bevor sie von der Diagnose erfuhr, gemeinsam mit ihrer Schwester gegessen.
Pot au feu war das letzte Gericht, das ich im Pierrot gekocht habe.Fleisch parieren. Gemüse waschen und schneiden. Es ist ein Kreislauf aus Kochen, Abschöpfen, Auskühlen und erneutem Kochen. Ich gab mageres und fettes Fleisch in den Topf, dazu Knoblauch, Nelken, Boquet garni. Ich servierte immer in zwei Gängen. Die Brühe in einfachen Schalen, verfeinert mit Schmelzkäse und Croutons. Danach das Fleisch, gemeinsam mit Gemüse und gegarten Kartoffeln, klassisch mit Senf, Vinaigrette und Cornichons.
Wieder das Telefon. Wieder Svea. Ich weiß, warum sie anruft, meine Ex-Frau hat es mir bereits gestern erzählt. Sie hatte einen Unfall mit einem Wagen, dessen Versicherung auf meinen Namen läuft. Es ist eine Vollkaskoversicherung, doch der Fahrer war nicht berechtigt und hatte mehr als anderthalb Promille Alkohol im Blut. Die Sache wird vor Gericht enden. Ich habe ihr immer wieder gesagt, sie soll die Finger von Typen lassen, die unverantwortlich sind, aber warum sollte sie noch auf mich hören?
Irgendwann sind wir nicht mehr nach Windeck gefahren. Wir haben einfach damit aufgehört. Ich wurde älter. Mein Vater alt. Meine Mutter starb. Einmal hat mein Vater den gusseisernen Topf noch ausgepackt. Wir saßen in seinem Garten auf der Patio. Ich habe versucht, das Feuerholz so zu schichten wie meine Mutter. Die Lamschulter kaufte ich bei einem Metzger in der Stadt. Kartoffeln, Karotten und Weißkohl auf dem Markt. Wir standen vor der Anrichte in der Küche und bereiteten die Zutaten gemeinsam vor. Während der Eintopf über den Flammen köchelte, tranken wir Bier und rauchten belgische Zigarillos. Mein Vater erzählte über ein Waldstück in der Nähe unserer alten Hütte, den die Nazis im Zweiten Weltkrieg vermint hatten. Dass sie das Gelände vor Kurzem räumen mussten und vielleicht nie alle Minen finden würden. Nach einer Weile sah er mich lächelnd an und sagte: „Wir haben keine Zitronenrinde.“ Wir aßen gegen Mitternacht. Es war eine warme Nacht.
Das Leben ist der Versuch zu atmen. Es ist der Versuch, zu atmen und nicht mehr damit aufzuhören.